Der radikale Humanismus des Frantz Fanon

Peter Hudis

Frantz Fanon war ein zentraler Denker und Revolutionär im Kampf gegen den europäischen Kolonialismus. Seine Perspektive auf das Verhältnis zwischen Rassismus und der Unterdrückung der arbeitenden Klasse zeigt, warum die Frontstellung zwischen Klassenpolitik und Anerkennungspolitik zu kurz greift.

Translated by
Franziska Heinisch

Nur wenige Theoretikerinnen und Theoretiker haben das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Rassismus so konkret analysiert wie Frantz Fanon. Der in Martinique geborene Philosoph, Psychiater und Revolutionär gilt weithin als einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts.

Fanon hatte die französische Kolonialherrschaft, die sich von der Karibik bis Nordafrika erstreckte, unmittelbar miterlebt. Diese Erfahrungen flossen in seine intellektuelle Arbeit. Er war außerdem in der revolutionären Bewegung aktiv, die in den 1950er Jahren für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte. Aber er sah auch die Gefahr, dass in den unabhängigen afrikanischen Staaten auf das koloniale System die Vorherrschaft einer nationalen Bourgeoisie folgen würde, wenn die Unabhängigkeitsbewegungen nicht weitreichendere gesellschaftliche Revolutionen in Gang setzen würden.

Denaturierung des Rassismus

Der 1925 geborene Frantz Fanon wuchs in der französisch beherrschten Kolonie Martinique auf den Kleinen Antillen auf. Ursprünglich identifizierte er sich – wie viele andere zu seiner Zeit – als Franzose und nicht als »Schwarz«. Als er zu Beginn des Zweiten Weltkrieges als Soldat zu den Freien Französischen Streitkräften eingezogen wurde, begann sich dieses Selbstverständnis zu wandeln. Denn diese Erfahrung brachte ihm den Rassismus der französischen »Zivilisation« schmerzlich nahe.

Als er in den späten 1940er Jahren nach Frankreich zurückkehrte, vertiefte sich Fanon in die Literatur der Négritude, einer französischsprachigen, literarisch-philosophischen, politischen Strömung, die für die Selbstbestimmung Schwarzer Menschen eintrat. Zeitgleich beschäftigte er sich mit den neuesten europäischen intellektuellen Entwicklungen, wie der Phänomenologie, dem Existenzialismusder Psychoanalyse oder dem Marxismus. Daraus resultierte auch ein erstes Buch, das 1952 unter dem Titel Schwarze Haut, weiße Masken erschien. Fanon war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst 26 Jahre alt.

Fanons bedeutender intellektueller Beitrag bestand darin, die Phänomenologie des Rassismus unter soziogenen Gesichtspunkten zu analysieren. Begründungsansätze, die auf vermeintlich natürliche Grundlagen rekurrierten, lehnte er dagegen ab. Die Hautfarbe mag, so Fanon, zwar biologisch veranlagt sein, ihre Wahrnehmung und Beurteilung jedoch ist durch soziale Gegebenheiten bedingt.

Die rassistischen Strukturen sind so allgegenwärtig, dass die Kategorie Race und der Rassismus als »natürliche«, transhistorische Phänomene erscheinen. Fanon zufolge kann eine solche Mystifikation des Rassismus nicht allein durch Aufklärung beseitigt werden. Da sie tief in den sozialen Realitäten verwurzelt ist, müsse sie auch auf dieser Ebene bekämpft werden.

In den vergangenen Jahrzehnten ist die »soziale Konstruiertheit von Race« zu einer solchen Phrase verkommen, dass die radikalen Schlussfolgerungen, die sich aus Fanons Argumentation ergeben, leicht übersehen werden. Denn begreift man Race als eine sozial konstruierte Kategorie, dann folgt daraus, dass spezifische gesellschaftliche Verhältnisse für ihre Entstehung und ihre Aufrechterhaltung verantwortlich sind. Und daraus wiederum ergibt sich die Frage, welche konkreten Strukturen diese Funktion erfüllen. Fanon ist der Auffassung, dass sie ökonomischer Natur sind:

»Die entfremdete Selbstwahrnehmung des Schwarzen Menschen impliziert ein schonungsloses Bewusstwerden über die gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten … Das Problem Schwarzer Menschen besteht nicht nur darin, dass Schwarze unter weißen Menschen leben, sondern dass Schwarze Menschen von der kolonialistischen und kapitalistischen Gesellschaft, die eben weiß ist, ausgebeutet, versklavt und verachtet werden.«

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kategorie Race gegenüber derjenigen der Klasse nachrangig ist, oder dass der Kampf gegen den Rassismus dem Kampf gegen den Kapitalismus untergeordnet sein sollte. Denn ein gesellschaftliches Phänomen definiert sich nicht nur durch seinen systemischen Ursprung. Der Rassismus entwickelt ein Eigenleben, und er bestimmt den Denkhorizont der Einzelnen auch dann noch, wenn einigen seiner ökonomischen Voraussetzungen der Boden entzogen wurde. Fanon bestand deshalb darauf, dass »der Schwarze Mensch den Kampf auf zwei Ebenen führen muss«, der objektiven und der subjektiven Ebene. Jede »Teilbefreiung nur auf einer dieser Ebenen ist unzulänglich, und der schlimmste Irrtum wäre es, ihre wechselseitige Bedingtheit einfach so anzunehmen.«

Doch genau dieser »Irrtum« kennzeichnete die prominenten Formen des Marxismus zu Fanons Zeit: Sie betrachteten den Rassismus (bestenfalls) als eine zweitrangige Angelegenheit und versäumten es dadurch, eine glaubwürdige marxistische Theorie der Rassifizierung zu erarbeiten. Aus diesem Grund schloss sich Fanon, obwohl er den Kapitalismus entschieden ablehnte, nie einer bestehenden marxistischen Denkrichtung an. Sylvia Wynter fasst Fanons Standpunkt folgendermaßen zusammen: »Eine theoretische Antwort muss sowohl die strukturelle, sozio-ökonomischen Ebene als auch die Ebene der individuellen Erfahrung, des Bewusstseins und damit der ›Identität‹ einbeziehen.«

Vom Objekt zum Subjekt

Für Fanon stellte die positive Bezugnahme auf die eigene Identität ein kritisches Moment in der Entwicklung eines Selbst-Bewusstseins dar. Die Befreiung Schwarzer Menschen als Subjekte war für Fanon mit der Wiedererlangung von Würde verbunden, die ihnen durch den White Gaze – den weißen, kolonialen Blick – geraubt worden war. Rassifizierte Attribute, die gesellschaftlich abgewertet wurden, stattdessen mit Stolz zu belegen, war nach Fanon ein entscheidender Schritt, um die dem Rassismus zugrundeliegende Naturalisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse infrage zu stellen.

Diese Betrachtungsweise entwickelte Fanon durch eine kritische Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes. Davon ausgehend argumentierte er, dass gegenseitige Anerkennung in einer Gesellschaft, die durch den rassistischen Blick definiert ist, unmöglich sei. Denn dieser Blick betrachtet People of Color wie Gegenstände: »Ich entdeckte mich als Objekt inmitten anderer Objekte.«

Hier lag für Fanon das zentrale Problem: Rassismus beraubt die Betroffenen nicht nur ihrer wirtschaftlichen Mittel und ihres sozialen Status, sondern er entmenschlicht und entpersonifiziert sie auch und lässt sie in einer »Zone des Nicht-Seins leben, eine höchst unfruchtbare und dürre Gegend, eine überaus nackte Rampe, von der aus eine authentische Erhebung entstehen kann«. Das erzeuge bei den Betroffenen einen Minderwertigkeitskomplex und das Gefühl, von geringerem menschlichem Wert zu sein. Diejenigen, die er als »Verdammte dieser Erde« bezeichnete, können diesen Mechanismus laut Fanon nur überwinden, indem sie sich die Anerkennung ihrer Menschlichkeit sichern. Und diese beruhe auf der positiven Bekräftigung ihrer ethnisierten oder nationalen Zuschreibungen.

Der Begriff der Anerkennung wird in Fanons Werk häufig missverstanden. Nach dem modernen politischen Verständnis bezieht sich der Begriff der »Politik der Anerkennung« vor allem auf die gegenseitige Anerkennung der »gleichen Rechte« aller Bürgerinnen und Bürger. So können beispielsweise alle vertraglichen Beziehungen, ob nun in der Politik oder der Wirtschaft, nur unter der Voraussetzung bestehen, dass die Vertragsparteien ihre gegenseitigen Rechte anerkennen. Wenn Fanon jedoch von Anerkennung sprach, so meinte er etwas anderes.

Er gab sich nie der Illusion hin, dass sich der Rassismus durch Forderungen nach formaler Gleichheit überwinden lassen könnte. Da People of Color nach Fanons Analyse gar nicht als vollwertige Menschen wahrgenommen wurden, waren sie somit aus dem Gesellschaftsvertrag ausgeklammert. Den Versuch, Anerkennung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu erreichen, prangerte er als eine Bemühung an, »weiß zu werden«, der den sich Anpassenden keine Befreiung verschaffen würde, sondern in dessen Folge sie weiter ihren internalisierten Minderwertigkeitsgefühlen unterworfen blieben.

Fanon zielte auf eine viel grundlegendere Art der Anerkennung – eine, nach der die menschliche Würde und der unbedingte Wert der Marginalisierten und Unterdrückten geachtet würde. Das Erreichen dieses Ziels, so erklärte er unverhohlen, verlangt nicht weniger als »eine Umstrukturierung der Welt«.

Fanons Herangehensweise bietet eine Alternative zu heutigen Debatten innerhalb der Linken über Race, Klasse und Identität. Denn Fanon widersetzte sich einem abstrakten Revolutionismus, der im Proletariat den Garanten für Befreiung sieht und die Bedeutung des Kampfes gegen Rassismus als zweitrangig erachtet. Gleichzeitig Fanon lehnte ebenfalls diejenige Spielart der Identitätspolitik ab, die lediglich Selbstverwirklichung und Trost innerhalb der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse sucht. Besonders deutlich wird das in seiner Arbeit als Psychiater.

Fanons Soziotherapie

Sein Psychiatrie-Studium begann Fanon in den späten 1940er Jahren in Lyon. Den Text zu Schwarze Haut, weiße Masken reichte er ursprünglich 1951 als Dissertation ein. Seine akademischen Betreuer lehnten die Arbeit aufgrund ihres unkonventionellen Inhalts umgehend ab. An ihrer Stelle reichte Fanon daraufhin eine technische Studie über die psychiatrischen Auswirkungen der Friedreich-Ataxie ein, einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems.

In seiner Dissertation, die erst kürzlich auf Englisch veröffentlicht wurde, würde man eine Abhandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse am wenigsten erwarten. Und doch zeigt sich auch in dieser Arbeit Fanons Verständnis des soziogenen Charakters des Rassismus. Er bestand darauf, dass psychische Krankheiten zwar biologische Ursachen haben können, aber in ihrer »Pathogenität immer psychischer Natur« sind.

Fanon weigerte sich, selbst neurologische Krankheiten auf ihre biologische Komponente zu reduzieren. Vielmehr interessierte er sich für den psychischen Leidensdruck, den sie für das Individuum erzeugen. Dabei ließ er sich von einem radikalen Humanismus leiten:

»Der [einzelne] Mensch hört in dem Moment auf ein Einzelphänomen zu sein, in dem er dem Gesicht des anderen begegnet. Denn der andere Mensch offenbart mir mich selbst. Indem die Psychoanalyse versucht, das erkrankte Individuum wieder in die Gruppe zu integrieren, erweist sie sich als die Wissenschaft des Kollektivs schlechthin. Das bedeutet, dass der gesunde Mensch auch ein sozialer Mensch ist, oder aber, dass das Maß für den gesunden Menschen, psychologisch gesprochen, seine mehr oder weniger perfekte Integration in die Gesellschaft ist.«

Dieser Gedanke sollte für Fanon in den darauffolgenden acht Jahren leitend sein. In dieser Zeit arbeitete er in einer Reihe von psychiatrischen Kliniken, erst in Frankreich, dann in Algerien und Tunesien, wo er, zunächst unter der Betreuung von François Toquelles, »Soziotherapie« praktizierte. Diese sollte Patientinnen und Patienten aus gefängnisartigen Bedingungen befreien und sie in die Gesellschaft integrieren.

Fanon und seine Kollegen praktizierten Beschäftigungstherapie, ließen die Patientinnen und Patienten Zeitungen und Theaterstücke produzieren und erlaubten ihnen, in der Anstalt frei miteinander zu interagieren. Fanon war weiterhin bereit, Medikamente zu verabreichen, und er setzte sogar das Mittel der Schocktherapie ein. Aber all das tat er in dem Bestreben, eine humanistische Umgebung zu schaffen, die den Patienten als menschliches Wesen anerkennt.

Dies erforderte eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die sowohl Fanons Arbeit als Psychiater als auch seine spätere Rolle als Revolutionär prägen würde. In seiner Dissertation zitierte er dazu einen Gedanken von Jacques Lacan:

»Es gibt eine grundlegende Diskordanz innerhalb der menschlichen Natur. Und selbst wenn die organischen Bedingungen der Intoxikation vorherrschen, ist die Zustimmung aus freien Stücken weiter unabdinglich.«

Wenn eine »grundlegende Diskordanz« unser Wesen definiert, so kann diese nicht einfach so überwunden werden. Vielmehr muss die Entfremdung als wesentlicher Bestandteil der menschlichen Existenz betrachtet werden. Fanon erwiderte darauf: »Wäre es nicht sinnvoller, eine offene Debatte über die Grenzen der Freiheit zu führen – das heißt, über die Verantwortung des Menschen?«

Die ersten Seiten von Schwarze Haut, weiße Masken enthalten eine eindringliche Erklärung: »Der Mensch ist ein JA, das im Rhythmus der kosmischen Harmonien schwingt.« Fanon verstand die Freiheit als eine »Welt der gegenseitigen Anerkennung«. Er beharrte darauf, dass der Wunsch »den anderen zu berühren, den anderen zu fühlen, sich gegenseitig zu ergründen« ein fester Bestandteil des menschlichen Wesens sei.

Die algerische Revolution

Nachdem er mehrere Jahre als Psychiater in Frankreich gearbeitet hatte, zog Fanon 1953 nach Algerien und nahm dort eine Stelle im Krankenhaus von Blida-Joinville, außerhalb von Algier, an. Dazu entschloss er sich nicht aus politischen Motiven. Denn er hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Kontakt zu den afrikanischen Befreiungsbewegungen und wusste auch ansonsten wenig über Algerien.

Schon bald war Fanon allerdings mit der »manichäischen« Gesellschaft konfrontiert, in der die französischen Siedler, die nur etwa 10 Prozent der algerischen Bevölkerung ausmachten, in einer völlig anderen Welt lebten als die große Zahl der arabischen und kabylischen Menschen. Letztere wurden in einer Weise diskriminiert, die weitaus brutaler war als alles, was er selbst auf den Antillen erlebt hatte. Als schließlich im November 1954 die algerische Revolution ausbrach, angeführt von der neu gegründeten Front de Libération Nationale (FLN), der Nationalen Befreiungsfront, schloss sich Fanon den politischen Zielen der Bewegung an – und auch ihrer Befürwortung des bewaffneten Widerstands.

Seine psychiatrische Arbeit verband Fanon ab sofort mit seinem Einsatz für die revolutionäre Bewegung. Beispielsweise versteckte er FLN-Revolutionärinnen und -Revolutionäre heimlich im Krankenhaus oder behandelte Opfer von Vergewaltigungen und Folter. Auch an den politischen Debatten innerhalb der FLN beteiligte er sich zunehmend.

Aber die Verbindung zwischen Psychiatrie und Politik bei Fanon reichen noch tiefer. Wie Robert J.C. Young darlegte, zog Fanon eine Analogie zwischen Gesellschaften unter kolonialer Herrschaft und therapiebedürftigen Menschen:

»Die Revolution war für Fanon die notwendige Form des Schocks, die den Wiederaufbau der kolonisierten Gesellschaft ermöglichen würde … Fanons Politik der Freiheit war eng an seine therapeutische Praxis angelehnt und von ihr abgeleitet.«

In den 1950er Jahren führte Fanon eine Reihe detaillierter Studien über die algerische Gesellschaft und Kultur durch. Darin untersuchte er die Bedeutung der Religion in muslimisch geprägten Ländern, das grundverschiedene Zeitempfinden nordafrikanischer und europäischer Menschen und auch die Art und Weise, wie sich Familien und Gemeinschaften in Algerien zunehmend durch den Bezug auf eine nationale Gemeinschaft definierten.

Insbesondere befasste er sich mit der häufigen Weigerung der Kolonisierten, Verbrechen zu gestehen, selbst wenn eindeutige Beweise für ihre Schuld vorlagen:

»Wir können uns diesem ontologischen System, das sich unserem Verständnis entzieht, vielleicht nähern, indem wir fragen, ob sich Indigene Musliminnen und Muslime überhaupt in eine vertragliche Vereinbarung mit der sozialen Gruppe eingeschlossen sehen, die jetzt Macht über sie ausübt. Fühlen sie sich an den Gesellschaftsvertrag gebunden? Welche Bedeutung hätten das Verbrechen, der Prozess und die Verurteilung, wenn sie es nicht täten?«

Fanon betonte, ein Schuldbekenntnis hänge von der Anerkennung als Subjekt ab – im kolonialen Kontext gab es diese jedoch schlichtweg nicht: »Es kann keine Reintegration geben, wenn es zuvor keine Integration gegeben hat.« Da der Gesellschaftsvertrag die koloniale Bevölkerung ausgrenzte, fühlte sie sich auch nicht verpflichtet, sich an seine gesetzlichen und juristischen Normen zu halten.

Die Weigerung ein Geständnis abzulegen, schlussfolgerte Fanon, stellte also einen Akt der Revolte dar. Das System, das sich weigerte, die Menschlichkeit der unter der Kolonialherrschaft stehenden Menschen anzuerkennen, ließ ihnen keine andere Wahl, als nicht nur für Reformen, sondern für die vollständige Zerschlagung der bestehenden Strukturen und Institutionen zu kämpfen. Das »kolonisierte Subjekt« – von arabischen und kabylischen Menschen in Algerien bis hin zu Schwarzen Menschen in der Subsahara-Region oder Schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern in den USA – müsse daher die Speerspitze der Kämpfe für eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse bilden, so Fanon.

Den Marxismus erweitern

Fanon stellte die revolutionäre Praxis der Kolonisierten in Kontrast zu der Passivität und dem Verrat der europäischen Linken. Die französischen sozialistischen und kommunistischen Parteien unterstützten den Krieg der französischen Imperialmacht gegen die algerische Revolution, der über eine halbe Million Menschen das Leben kostete.

Ein sozialistischer Politiker, Guy Mollet, leitete die gewaltsame Niederschlagung in Algerien, und die kommunistischen Abgeordneten im französischen Parlament stimmten, ungeachtet ihres formalen Bekenntnisses zum leninistischen Anti-Kolonialismus, bereitwillig für Kriegskredite. Mit Ausnahme einiger Figuren wie Jean-Paul Sartre gab es selbst seitens der radikalsten Teile der europäischen Linken wenig aktive Unterstützung für die algerische Revolution. Fanon wurde daraufhin zunehmend kritisch gegenüber dem marxistischen Paradigma, das einen Großteil des westlichen Denkens bestimmte.

Diese Überlegungen sind von zentraler Bedeutung in Fanons letztem und bekanntestem Buch Die Verdammten dieser Erde. Kurz nachdem er erfahren hatte, dass er unheilbar an Leukämie erkrankt war, begann er dieses Buch zu schreiben, und er starb nur wenige Tage nach seinem Erscheinen im Jahr 1961. Entgegen häufiger Annahmen kehrt Die Verdammten dieser Erde Europa nicht völlig den Rücken. Vielmehr widmet sich Fanon darin der Aufgabe, wichtige Aspekte europäischen Denkens kritisch zu beleuchten, einschließlich des Marxismus.

Er plädiert dafür, dass die marxistische Analyse »immer etwas erweitert werden sollte, wenn es darum geht, koloniale Fragen zu behandeln«. Nach der Marxschen Analyse der Akkumulation des Kapitals in Europa habe die Entwicklung des Kapitalismus die Bauern aus der »ursprünglichen Produktionsstätte« des Landes gerissen und sie in ein urbanes Proletariat verwandelt, das durch die Konzentration und die Zentralisierung des Kapitals zu einer gewaltigen, geschlossenen und revolutionären Kraft werden würde. Fanon argumentierte, dass sich dieser Prozess in Afrika nicht wiederholte.

Die Zerstörung der traditionellen, gemeinschaftlichen Eigentumsformen auf dem Kontinent hatte nicht die Entstehung eines massenhaften, radikalisierten Proletariats zur Folge. Denn die Kolonialmächte trieben die Industrialisierung Afrikas nicht voran, sondern hielten die wirtschaftliche Entwicklung vielmehr auf, indem sie sich Arbeitskraft und natürliche Ressourcen brutal aneigneten. Die bäuerliche Landbevölkerung stellte weiter den größten Teil der Bevölkerung dar, während die arbeitende Klasse in den Städten relativ klein und schwach war. Deshalb sah Fanon nicht in der entstehenden Arbeiterinnenklasse Afrikas das größte revolutionäre Potenzial, sondern in der Bauernschaft und dem sogenannten Lumpenproletariat.

Fanon wurde vorgeworfen, die Rolle der bäuerlichen Bevölkerung zu überhöhen und zu missachten, wie wichtig die arbeitende Klasse für die afrikanischen Unabhängigkeitskämpfe der 1950er und 60er Jahre gewesen war. Diese Kritik ist sicherlich in einem gewissen Maße berechtigt. In einigen entscheidenden Punkten stimmte Fanon allerdings durchaus mit Marx überein. Nämlich darin, dass eine gesellschaftliche Revolution nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie das Werk einer »selbständige[n] Bewegung der ungeheuren Mehrzahl« ist.

Wie schon Marx vor ihm, so lehnte auch Fanon die Vorstellung ab, dass eine erfolgreiche Revolution durch eine Minderheit der arbeitenden Klasse verwirklicht werden könne, die – in der Praxis oder zumindest in der Theorie –, von einer »disziplinierten und zentralisierten« Arbeiterpartei geführt würde. Er versuchte einen Weg für Afrikas Revolutionen zu skizzieren, mit dem sich die Fehler der vorangegangenen Revolutionen vermeiden ließen.

Ein neuer Humanismus

Der größte Verdienst von Die Verdammten dieser Erde liegt in seiner vorausschauenden Warnung vor dem Schicksal, das die afrikanischen Revolutionen ereilen könnte, wenn sich der Kampf um Unabhängigkeit nicht zu einer gesellschaftlichen Revolution weiterentwickeln und einen »neuen Humanismus« etablieren würde. Fanon war zwar ein leidenschaftlicher Befürworter der nationalen Befreiung durch den bewaffneten Kampf, aber nur sofern dieser im Zeichen dieses neuen Humanismus stand.

Im Kampf für nationale Unabhängigkeit habe die algerische Bewegung verschiedene ethnisierte Gruppen – Araberinnen, Kabylen und Schwarze Afrikanerinnen – zusammengebracht, sowie diejenigen weißen Algerier mobilisiert, die bereit waren, auf ihre Privilegien zu verzichten. Fanon prognostizierte jedoch, dass diese Kämpfe der Machtausübung der Bourgeoisie zum Opfer fallen könnten, wenn sie nach der Erlangung der Unabhängigkeit nicht in eine Phase der gesellschaftlichen Transformation übergingen.

Fanons Vision der Entwicklung der Revolution steht sowohl dem Kapitalismus westlicher Prägung als auch dem sowjetischen Top-Down-Modell der Industrialisierung entgegen. In dieser Vision sollten die revolutionären Massen eine dezentralisierte Gesellschaft schaffen, in der sie nicht nur formal, sondern effektiv Kontrolle über die wirtschaftlichen und politischen Prozesse ausüben konnten. Deshalb lehnte er die Organisationsform ab, die praktisch alle afrikanischen Revolutionen (und auch die algerische) annahmen: »Die Einheitspartei ist die moderne Form der bürgerlichen Diktatur – ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch in jeder Hinsicht.«

Die reichen kapitalistischen Länder, in denen »eine Vielzahl von Predigern, Beratern und ›Mystifizierten‹ zwischen den Ausgebeuteten und den Autoritäten vermittelt«, um einen direkten Zusammenstoß zu verhindern, stellt Fanon den kolonialen Staaten gegenüber, in denen »ein direktes Eingreifen der Polizei« dafür sorgen würde, »dass die Kolonisierten unter genauer Beobachtung und durch Gewehrkolben in Schach gehalten werden«.

Die gescheiterten und unvollendeten Revolutionen des letzten Jahrhunderts bekräftigen die Überzeugung Fanons, dass eine erfolgreiche Umwälzung ökonomischer und politischer Unterdrückung auch die Veränderung der intimsten menschlichen Beziehungen erfordert, angefangen bei der Art und Weise, wie wir uns in einer von rassistischen Strukturen geprägten Gesellschaft gegenseitig wahrnehmen. Oder, um es mit den Worten der Marxistin Raya Dunayevskayas zu sagen: »Es sind nicht die Produktionsmittel, die den neuen Typus der Menschheit schaffen, sondern der neue Typus der Menschheit, der neue Produktionsmittel schafft.«

Peter Hudis ist Professor für Philosophie am Oakton Community College und Autor des Buches »Frantz Fanon: Philosopher of the Barricades«.

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